Leseprobe

Leseprobe zum Roman „Rosafarbenes Morgenlicht draußen“ von Evelyn Safian,
der sich mit der Emanzipation in den 68er Jahren beschäftigt:

 

1. Kapitel

Die Zeit hielt ihr ein scharfes Messer an den Rücken. „Lass die Herren nicht warten, Kindchen“, hatte ihr Mann Martin sie gewarnt, bevor sie in die Küche gehastet war. Die Herren, so, so, die Herren, rasch Butter aufs Brot schmieren, nein, nicht auf den Finger, Butterfinger, lecker, nun Emmentaler drauf und saure Gürkchen, das schmeckt, hatte ihr Sohn Ludwig gerufen? Nein, oder doch, er würde sich melden, wenn’s ernst war. „Na, kommst du vorwärts?“ Martin war an den Türrahmen gelehnt, Hände in den Hosentaschen, den Fuß über das Schienbein gekreuzt, seine Lässigkeit, erst seit Kurzem sein neues Gehabe. „Da – kannst du die eine Platte ins Wohnzimmer bringen … und die Teller auch?“

Lächeln, stets lächeln, merkte er nicht, dass sie müde war? Nur, weil er lieber vorgegaukelt bekam, „seine Hanna“ sei fröhlich, verbarg sie die bleierne Müdigkeit, von der sie nicht wusste, woher sie kam, vor ihm. „Wann bist du endlich mit der zweiten Platte fertig?“ Schweißwasserfall am Rücken. „Sofort.“ Natürlich nahm er die erste Platte mit, wer sagt’s denn?, das bisschen Hilfe im Haushalt, war ja kein Thema, nicht? Rasch weitermachen, bis zum nächsten Klack des Minutenzeigers der Küchenuhr zwei Brote mit Lachs belegen, mit Majo garnieren, Schweiß abwischen, lass die Herren nicht warten, weitermachen, zwei Brote mit Frischkäse bestreichen und mit Schnittlauch verzieren. Martin hatte seinen Gästen, Geschäftspartnern und Kunden, die Gaumen auf ihre „Klassekanapees“ scharfgemacht, warum ließ sie sich drängen? Schweiß abwischen, lass die Herren nicht warten, weitermachen, Wein einschenken, lass die Herren nicht warten, weitermachen, vorsichtig den Schwarzburgunder in die Karaffe füllen, auf die weiße Spitzenbluse kleckerte sie dennoch, verstohlen fluchte sie. Schnell die Platte ins Wohnzimmer balancieren. Mit dem Fleck auf der Bluse. Rot. Fünf Schlünde gierten nach den Kanapees. Am Esstisch hockten sie, die Männer, rauchten und tranken „Martini on the Rocks“ aus der von Martin im Wohnzimmerschrank eingerichteten Hausbar. Neben dem wuchtigen, dunklen Wohnzimmerregal, das Martin mit Schmökern vollgestopft hatte, um seinen Besuchern Bildung vorzutäuschen, und zwar mit Werken von Goethe, Schiller, Heine, Eichendorff und Kleist, von denen er im Gegensatz zu Hanna die meisten nicht einmal in der Hand gehabt hatte. Für Hannas Bücher blieben gerade mal drei Bretter übrig.

Breit lächelnd stellte sie den Herren die Kanapee-Platte vor die Nase. Durchatmen.

Seit sieben Jahren wohnte sie mit ihrem Mann in diesem Haus, Baujahr 1960, in einer Gegend, in der sich Anwaltskanzleien und Arztpraxen aneinanderreihten, und Luxusgattinnen ihre Lockenwicklerköpfe über die Zäune streckten, um zu ratschen.

Sie warf einen Blick ins Kinderzimmer. Ihr achtjähriger Sohn Ludwig war in die Fantasiewelt von George Orwells „1984“ abgetaucht. Lieber beschäftigte er sich mit Büchern als mit Menschen.

Rasch wechselte Hanna die Bluse und begab sich zur Männerrunde unten im Wohnzimmer. Vor Hunger war ihr schlecht. Fünf Kanapees waren noch da. War das der Trost für den verpassten Festschmaus? War das der Dank für die harte Arbeit?

Am Rande der Runde lauerte sie auf eine Gelegenheit eine Kleinigkeit beisteuern zu können, doch ihr Wortspeicher war leer. Die Herren begnügten sich mit ihrer Rolle als Kanapee-Lieferantin.

Ludwig wurde gerufen und durfte eine Weile an der Männerrunde teilnehmen. Schließlich plante Martin, ihm eines Tages die Autozulieferungsfirma zu übergeben, und so wünschte er, dass sein Sohn echtes Geschäftsgebaren kennenlerne. Allerdings konnte sich Hanna ihren in sich gekehrten Sohn eher im Elfenbeinturm der Wissenschaft hinter Stapeln von Büchern vorstellen, als in einer Werkstatt. Er war der geborene Forscher. Tapfer ließ Ludwig das Schulterklopfen und den Wortschwall der Männer über seine berufliche Zukunft in der Firma seines Vaters über sich ergehen. Martin fragte ihn, ob er etwas von den Kanapees seiner Mutter kosten wolle, doch er lehnte ab. Nur aus Selbsterhaltungstrieb nahm er Essen zu sich, nie aus Spaß. Deswegen war er so dünn.

Endlich gaben sie ihn frei. Hanna konnte ihm ansehen, wie erleichtert er war.

Der Wein, den sie immer wieder nachschenken musste, weichte allmählich die mit Gewichtigkeit gefüllten Gespräche auf und verwandelte die in Schlips und Hemden eingesperrten Herren Glas um Glas und Stunde um Stunde in Jungs, die sich zuprosteten und bald nicht mehr wussten, welcher Unsinn ihnen aus den Mündern quoll.

Im Grunde war Martin nicht der Typ für Schlips, Hemd und Anzug. Im Alltag bevorzugte er Cordhosen, karierte Hemden – bitte gestärkt und gebügelt – und Pullunder darüber. Aber wollte man Karriere machen, so musste man sich wohl verkleiden, handelte es sich bei den „Herren“ schließlich um äußerst wichtige Kunden.

Die Türklingel schrillte. Fünf Männer, die eben in der Jugend geschwelgt hatten, hoben die Köpfe. Wer mochte das sein?

Hanna öffnete. Langes, blondes Haar, ja, ja, sommersprossige Blässe, türkisgrün der Blick, ein mit knallrotem Lippenstift voll gemalter Mund, ja, ja, ein eckiges, mit einer Kerbe verziertes Kinn, lange Beine und schwungvolle Hüften, ja, ja, das war Brigitta.

Überrascht trat Hanna einen Schritt zurück, gestern erst hatte Brigitta sie aus Berlin angerufen. Nun, für Überraschungen war sie gut. „Du? Um die Zeit? Es ist zehn.“

Brigitta drückte ihr links und rechts einen Kuss auf die Wangen. „Ich bin gestern spät abends nach Hause gekommen. Ich habe bei dir Licht gesehen und mir gedacht, ich könne vorbeischauen.“

Hannas Mund verzog sich zu einem Strich. „Wir haben Gäste. Geschäftsfreunde und Kunden von Martin.“ Von einem solchen Einwand ließ sich Brigitta nicht beeindrucken. „Ich will nicht lange stören. Ich habe nur eine Frage.“

„Ja?“

„Hast du am 6. Juni Zeit?“

Hanna grübelte. „Das ist in einem Monat. Ich denke nicht, dass wir da was vorhaben. Worum geht es?“

Brigitta blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oh, wie cool. „Eine Demo gegen den Vietnamkrieg. In Berlin.“

„Und?“

„Komm mit.“

„Ach, ich weiß nicht …“, sagte Hanna und schlang die Arme um den Oberkörper. Brigitta spitzte den Mund. „Du weißt nicht, was du verpasst, Hanna.“

Einer der Männer, von der Toilette kommend, trat in die Diele, wie einen Medizinball schob er den Bauch vor sich her, sein Gesicht war gerötet, Schweiß rann ihm vom vielen Wein von der Stirn herab.

Sein Gierblick griff nach Brigitta. „Warum ungemütlich im Eingang herumstehen?“, fragte er. „Kommen Sie rein, trinken Sie ein Glas Rotwein mit uns.“

Geschmeichelt lächelte sie.

Wie sie auf den Stöckelschuhen und im Minikleid Hüfte schwingend auf die Männerrunde zuging, na, na! Sie parodiere nur die Frauchen, hatte sie zu Hanna einmal gesagt, die sich als Sexobjekte benutzen ließen. Seien keine Männer zum Foppen da, nehme sie einen stolzen, unabhängigen Gang an. Natürlich hatte sie keine Probleme, mitten in der Männerrunde Platz zu finden. Als Martin sie sah, seufzte er, weil dieses Weib schon wieder da war, zupfte sich dennoch den Kaiser-Wilhelm-Zwirbel-Bart zurecht und schob ihr gnädig einen Stuhl zwischen seine Gäste, und sie rückten bereitwillig auf die Seite. Für eine erotische Frau wie Brigitta war das drin. Und weil sie die Männer aufforderte, werbend und aufstachelnd zugleich, ihre Reihen für Hanna zu lichten, fand sie ebenfalls Platz. Wer sagt`s denn?